In den alttestamentlichen Geschichtsberichten finden sich im Zusammenhang mit den konventionell großen Zahlen verschiedene teilweise gravierende Widersprüche zwischen Parallelberichten über die gleichen Ereignisse, z.B. bei den im vorausgehenden Abschnitt schon erwähnten Aramäer-Kriegen Davids und bei dessen Volkszählung (siehe ‎1.1) oder bei den Stallplätzen Salomos, für die in 2Chr 9,25 eine Anzahl von 4.000 und in 1Kön 5,6 nach der Lesart des Masoretischen Textes 40.000 angegeben werden. Auch die große Zahl von 603.550 Wehrfähigen über 20 Jahren (4Mose 1,46) passt nicht zu den nur 22.273 angegebenen Erstgeborenen im Alter von einem Monat und älter (4Mose 3,43). Setzt man die Erstgeborenen der Anzahl der Mütter gleich und rechnet die Wehrfähigen auf 1 Mio. Männliche von einem Monat und älter hoch, entfallen auf jede Mutter durchschnittlich 45 Söhne und entsprechend viele Töchter.1  Außerdem widersprechen an vielen Stellen sehr hohe Mann-Zahlen den topografischen Bedingungen vor Ort und gut bezeugten außerbiblischen Geschichts-Quellen. Wenn es aber einen Gott gibt, der diese Welt erschaffen und sie bis heute durch sein Handeln in der Geschichte erhalten hat und dieser Gott sich in der Bibel geoffenbart und diese insgesamt als Wahrheit erklärt hat, so dürfte es solche gravierende Widersprüche zwischen Bibel und gesicherter Geschichte und erst recht zwischen zwei Bibelstellen eigentlich grundsätzlich nicht geben.

Der Wahrheitsanspruch der Bibel wäre aber nicht in Frage gestellt, wenn ein Widerspruch lediglich durch ein falsches Verständnis einer biblischen Aussage entstanden wäre. Dies könnte verschiedene Ursachen haben, z.B.:

  • Uns fehlt eine Schlüsselinformation, die die Zusammenhänge klärt.
  • Einzelne hebräische Wörter wurden nicht in ihrem vollen Bedeutungsspektrum erfasst und deshalb falsch übersetzt oder gedeutet.
  • Wir interpretieren Aussagen oder Geschehen aus unserer heutigen Perspektive falsch.
  • Die vorstehenden Gründe bedingen sich u.U. gegenseitig.

Mit der Schlüsselinformation, dass אֶלֶף (ÄLäPh) auch die Bedeutung „Einheit“ hatte (siehe 1.4 Grundannahme 2), ergibt sich eine andere Übersetzungsmöglichkeit, die auch für die Auslegung des Kontextes neue Möglichkeiten eröffnet. Damit können in meinem Modell durch eine Neubewertung vieler Zahlen größer Tausend – soweit ich es überblicke – alle Widersprüche zwischen solchen Zahlen in den Parallelberichten der Königszeit aufgelöst werden. Damit muss nicht mehr an den bisher in vielen Einzelfällen zur Erklärung der Widersprüche angenommenen unterschiedlichen Abschreibfehlern festgehalten werden. Auch ein Revisionsfehler im Zusammenhang mit dem Begriff ÄLäPh muss hier nicht angenommen werden.

Allein durch eine andere Übersetzung lässt sich das Problem der großen Zahlen in den Zensusberichten in 4. Mose 1 und 4Mose 26 aber leider nicht lösen, da bei den Zahlenangaben der zwölf Stämme eine Übersetzung der ÄLäPh-Angaben als „Einheit“ und nur der Hunderter und Zehner als Zahlen zu viel zu kleinen Zahlen führt. Nur 5.550 bzw. 5730 Wehrfähige für das Gesamtvolk in den beiden Zensusberichten oder durchschnittlich rund 460 bzw. 480 Wehrfähige pro Stamm widersprechen sowohl der berichteten großen Vermehrung in Ägypten als auch den Eroberungs- und Landverteilungsberichten. Auch der Widerspruch zu der – dann viel zu großen – Zahl von 22.273 Erstgeborenen lässt sich damit nicht auflösen. Bei der Gesamtsumme der Wehrfähigen bei beiden Musterungen und den bei der Beschreibung der Lagerordnung angegebenen Zwischensummen für je drei Stämme (4Mose 2,9+16+24+31) ist zudem auch bei Wertung aller ÄLäPh-Angaben in den Detailangaben je Stamm als „Einheit“ ein Überlieferungsfehler unvermeidbar. Behält man dagegen die konventionellen großen Zahlenangaben in den Zensusberichten bei und reduziert nur die großen Zahlen in der Königszeit durch eine andere Übersetzung von bestimmten ÄLäPh-Angaben, verschärft sich das Problem sogar noch, da nun noch ein Widerspruch zwischen den Größenordnungen der Zahlen in den Zensusberichten und denen der Königszeit hinzukommt.

Wenn wir daran festhalten wollen, dass die alttestamentlichen Geschichtsberichte reale, historisch korrekte Zahlen mitteilen wollen, stehen wir daher vor den folgenden beiden Alternativen:

  • Ablehnung des in meiner Grundannahme 3) vorgeschlagenen systematischen Revisionsfehlers in den Zensusberichten in 4. Mose sowie in Josua und Richter
    Folge: Beibehaltung der überlieferten unrealistischen Zahlen und daraus folgenden innerbiblischen Widersprüchen
  • Akzeptierung dieses systematischen Revisionsfehlers in den Zensusberichten in 4. Mose sowie in Josua und Richter und Rekonstruktion der ursprünglichen Zahlen aus dem Kontext
    Folge: Auflösung vorhandener Widersprüche und Erreichung von realistischen Zahlen, die mit anderen Zahlen im gesamten AT und mit anderen Geschichtsquellen sowie der Topografie in Ägypten und der Levante konsistent sind.

Wenn man berücksichtigt, dass bei der zweiten Alternative die „wahre“ Bedeutung der Zahlenangaben aus dem biblischen Kontext erschlossen werden kann, diese also im weitesten Sinn in den biblischen Angaben enthalten ist, sollte die Wahl hier nicht schwerfallen – auch wenn die Rekonstruktion der ursprünglichen Zahlen und die daraus folgende Neubewertung des jeweiligen Kontextes einigen Denkaufwand erfordern. Hier gilt was Gerhard Maier zum Umgang mit (scheinbaren) Widersprüchen geschrieben hat:

Wir müssen allerdings klar sagen, dass nach dem Grundsatz „Schrift ist mit Schrift zu erklären“ die äußerste Mühe entsprechend den uns geschenkten Gaben eingesetzt werden muss, um gegenseitige Übereinstimmung zu entdecken.2

Aber auch wenn wir selbst mit äußerster Mühe nicht alle Widersprüche auflösen und alle Fragen klären können, hilft doch jede Antwort und jede Auflösung eines Widerspruchs, gelassener mit den verbleibenden offenen Fragen und Widersprüche umzugehen, weil damit der Glaube daran, dass es auch dafür Lösungen gibt, wächst. Dazu möchte ich mit den hier vorgelegten Deutungsvorschlägen beitragen.

Ein mögliches Szenario, wie es nach dem Exil zu einer Textrevision, die zu dem postulierten Fehler geführt hat, gekommen sein könnte, habe ich in Abschnitt 7.3.5ff kurz skizziert und in Kapitel ‎14 ausführlich dargestellt. Für dieses Szenario lassen sich bei unvoreingenommener Suche deutliche Hinweise im Bibeltext finden. Erwähnt werden sollte noch, dass dieser Revisionsfehler nur entstanden sein kann, wenn die Berichte lange vorher niedergeschrieben wurden, weil es lange dauert, bis in einer Schriftsprache die Bedeutung eines Wortes, das vielfach in weiterhin in Gebrauch befindlichen Texten vorkommt, vollständig in Vergessenheit gerät. Bei mündlicher Überlieferung wäre ein solcher Fehler völlig ausgeschlossen, weil hier bei Unklarheiten eine Rückfragemöglichkeit besteht. Die Aufdeckung dieses Fehlers und die plausible Rekonstruktion der ursprünglichen Zahlen wäre daher ein starkes Indiz für eine frühe Niederschrift und damit für die Historizität der alttestamentlichen Geschichtsberichte (siehe ‎15.3). Weitere Indizien dafür finden sich in den folgenden Abschnitten.

  • 1 Vgl. Zerbst: Größe Israels, S. 111, Abschn. 2.2.2.5.

    2 Gerhard Maier: Das Ende der historisch-kritischen Methode. Wuppertal: Theologischer Verlag Rolf Brockhaus 1974, S. 70f