Wie in Abschnitt ‎4.1.5 aufgezeigt passen die konventionellen Zahlen des Midianiter-Feldzuges von insgesamt 808.000 erbeuteten Tieren und 32.000 gefangengenommenen Jungfrauen weder zu den neubewerteten Zahlen des zweiten Zensus von 25.730 Wehrfähigen (siehe ‎3.2) noch – so Zerbst – zu den archäologischen Funden aus dieser Zeit im Ostjordanland. Aus der Zahl der Jungfrauen rechnet Zerbst überschlägig eine Zahl von 40.000 wehrfähigen Männern hoch (siehe ‎4.1.5 mit Fußnote 1), was einer Gesamtbevölkerung von etwa 144.000 Menschen entspricht.

Auch wenn man der von mir vorgeschlagenen Neubewertung der Zensus-Zahlen nicht folgt, besteht ein innerbiblischer Widerspruch zwischen der Größe des auf diesem Feldzug eingesetzten israelitischen Heeres von konventionell 12.000 Mann (4Mose 31,5-7) – diese Zahl reduziert sich im Rahmen meiner Neubewertung nicht – und der aus den großen Beute- und Gefangenen-Zahlen folgenden Bevölkerungsgröße der Midianiter. Es wäre nicht nachvollziehbar, warum Israel bei über 600.000 Wehrfähigen gegen ein so großes Volk mit entsprechend großem Siedlungsgebiet nur 12.000 Mann in den Krieg schickt und erst recht nicht, dass dieses Heer ohne einen einzigen Mann Verlust (4Mose 31,49) einen so vollständigen Sieg erringt und so große Beute macht. Auch das Tränken und Weiden von 808.000 Tieren sowie die Bewachung und Versorgung von rund 100.000 Gefangenen – 32.000 Jungfrauen (hier sind Mädchen von 1 bis etwa 15 Jahren gemeint) + 32.000 Jungen + 40.000 über 15-jährige Frauen – durch die 12.000 israelitischen Soldaten auf dem über 100 km langen Rückweg ebenso wie die Tötung von 72.000 gefangenen Frauen und Jungen sind rein logistisch schwer vorstellbar.

Deshalb gehe ich davon aus, dass auch die in den Beutezahlen enthaltenen ÄLäPh neu bewertet werden müssen. Ein Hinweis darauf könnte in der Zählungsaufforderung Jahwes in 4Mose 31,25-26 enthalten sein:

25 Und der HERR redete zu Mose und sprach: 26 Nimm die Summe [hebr.: רֹאשׁ (Ro°Sch), Übersetzungsvorschlag M.K.: Abteilungszahl] der weggeführten Beute auf, an Menschen und an Vieh, du und der Priester Eleasar und die Familienoberhäupter8 der Gemeinde!

 8 w. die Häupter der Väter

Bei der Zählung wirkten Mose, der Hohepriester Eleasar und – weil es um eine gerechte Verteilung der Beute auf die zwölf Stämme ging – wie beim ersten Zensus (4Mose 1,2-4) die zwölf Fürsten der zwölf Stämme mit. Die Übersetzung mit „Familienoberhäupter“ statt der wörtlichen Übersetzung „Häupter der Väter“ ist daher sehr unglücklich gewählt. Der Übersetzung „Summe“ liegt das hebräische Wort רֹאשׁ (Ro°Sch) zugrunde. Dieses Wort mit der Grundbedeutung „Oberhaupt“ oder „Haupt-…“ wird bei neun Vorkommen im Plural üblicherweise mit „Abteilungen“ übersetzt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es sich um Gruppen handelte, die jeweils einem Oberhaupt unterstellt waren. Diese Bedeutung kommt z.B. bei Gideon vor, der seine 300 Mann in drei Abteilungen (רָאשִׁים Ra°SchIM, Plural) unterteilt, d.h. sie drei Oberhäuptern unterstellt (Ri 7,16). Die Oberhäupter stehen für ihre Abteilungen, die sozusagen ihr verlängerter Arm sind, weshalb für die ganze Abteilung der Begriff רֹאשׁ (Ro°Sch) verwendet wird. Ich gehe davon aus, dass diese Bedeutung auch in der oben zitierten Zählungsaufforderung für die Midianiterbeute gemeint ist. Für die m.E. acht Vorkommen dieser Bedeutungsvariante im Singular habe ich in Abschnitt ‎4.1.5 die Übersetzung „Abteilungszahl“ vorgeschlagen und detailliert begründet.

Daraus würde sich ergeben, dass bei der Midianiterbeute die auch nach einer Neubewertung noch riesige Menge an Tieren und Gefangenen in irgendeiner Weise in Abteilungen gegliedert war. Diese Abteilungen waren einem verantwortlichen Wächter als „Oberhaupt“ unterstellt. Ich stelle daher folgende These auf: Bei der Midianiterbeute wurde entsprechend der oben zitierten Zählungsaufforderung Jahwes für die erbeuteten Tiere und die Gefangenen jeweils die Anzahl der Abteilungen – und nicht die Gesamtsumme – angegeben. Wenn diese These stimmt, würden sich die Zahlen der erbeuteten Tiere und gefangengenommenen Menschen deutlich reduzieren. Im nächsten Abschnitt untersuche ich, wie groß die Abteilungen gewesen sein könnten.