Als Kandidat für die Durchführung einer abschließenden Gesamtrevision des alttestamentlichen Kanons am Ende seines Entstehungszeitraumes kommt der Schriftgelehrte und Priesternachkomme Esra in Frage. Die beiden zuletzt verfassten Bücher des AT-Kanons „Nehemia“ und „Maleachi“ dürften noch zu seinen Lebzeiten abgeschlossen worden sein. Über ihn ist in Esra 7,6+10 folgendes gesagt:

6 dieser Esra zog herauf von Babel. Und er war ein kundiger Schriftgelehrter im Gesetz des Mose, das der HERR, der Gott Israels, gegeben hatte. Und der König gewährte ihm, da die Hand des HERRN, seines Gottes, über ihm war, all sein Begehren.

10 Denn Esra hatte sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz des HERRN zu erforschen und zu tun und in Israel ⟨die⟩ Ordnung und ⟨das⟩ Recht ⟨des HERRN⟩ zu lehren.

Esra hatte sich intensiv mit dem Gesetz Moses auseinandergesetzt und es war sein Herzensanliegen, die Ordnungen Jahwes im Volk wieder bekanntzumachen. Ihm war klar, dass dafür die als Lehrgrundlage dienenden heiligen Schriften für das Volk verständlich sein mussten. „Da die Hand des Herrn, seines Gottes, über ihm war,“ sah Esra sich wahrscheinlich dazu berufen, diese Verständlichkeit wiederherzustellen. Zwischen der nach Esras Rückkehr aus Babel nach Jerusalem von ihm veranlassten Auflösung der Mischehen der Israeliten mit Angehörigen anderer Völker (Esra 10) und dem Bau der Stadtmauer Jerusalems durch Nehemia lagen etwa zwölf Jahre, in denen nichts über Esra berichtet wird. Erst danach wird er wieder erwähnt, als er nach Fertigstellung der Stadtmauer (Neh 7,1) vor dem in Jerusalem versammelten Volk das Gesetz vorlas. Ich gehe davon aus, dass Esra in diesen zwölf Jahren an einer Textrevision des gesamten ihm vorliegenden AT-Kanons gearbeitet hat, so dass er nun einen für das Volk wieder gut verständlichen Text vorlesen konnte. Ich zitiere Neh 8,1-4:

da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz, der vor dem Wassertor war. Und sie sagten zu Esra, dem Schriftgelehrten, er solle das Buch mit dem Gesetz des Mose herbeibringen, das der HERR ⟨dem Volk⟩ Israel geboten hatte. 2 So brachte am ersten Tag des siebten Monats der Priester Esra das Gesetz vor die Versammlung, vor Männer und Frauen, und vor jeden, der zu hören verstand. 3 Und er las daraus vor auf dem Platz, der vor dem Wassertor war, vom ⟨ersten Tages⟩licht bis zum Mittag in Gegenwart der Männer und Frauen und ⟨aller⟩, die es verstehen konnten. Und die Ohren des ganzen Volkes waren auf das Buch des Gesetzes ⟨gerichtet⟩. 4 Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einem Holzgerüst, das man zu diesem Zweck hergestellt hatte. Und neben ihm standen Mattitja, Schema, Anaja, Uria, Hilkija und Maaseja, zu seiner Rechten; und zu seiner Linken Pedaja, Mischaël, Malkija, Haschum und Haschbaddana, Secharja ⟨und⟩ Meschullam.

Wahrscheinlich war im Volk bekannt, dass Esra an einer Revision der heiligen Schriften arbeitete. Einige wussten vielleicht auch, dass mit der Thora (= die fünf Mose-Bücher) der erste Teil schon abgeschlossen war. So wurde er aufgefordert aus der revidierten Fassung des Gesetzes Moses vorzulesen. Nun stellt sich die Frage, wer die 13 Männer waren, die neben Esra auf dem Holzgerüst standen. Dazu stelle ich folgende These auf: „Die in Neh 8,4 namentlich genannten 13 Männer, die neben Esra auf dem Podium standen, waren seine Mitarbeiter bei der Durchführung der Textrevision, die mit ihm für das Ergebnis geradestanden und für ihre Arbeit geehrt wurden.“ Klar ist jedenfalls, dass ein solches Mammutwerk, wie es eine umfassende Revision des gesamten AT-Kanons mit den damaligen Möglichkeiten darstellt, nicht von einem Mann allein geleistet werden konnte.

Vom ersten Tageslicht bis zum Mittag wurde aus dem Gesetz vorgelesen. Anschließend erfolgte laut Neh 8,7 eine Erläuterung des Gesetzes durch weitere 13 namentlich genannte Männer:

7 Und Jeschua und Bani und Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan, Pelaja, die Leviten2, belehrten das Volk über das Gesetz. Dabei ⟨stand⟩ das Volk an seiner Stelle. 

2 so mit mehreren LXX-Handschr. und Vulg.; Mas. T.: und die Leviten

Auch bei dieser Belehrung blieb das Volk an seinem Platz. Anders als z.B. bei dem Einweihungsfest für die Stadtmauer, wo Priester mit Trompeten und Sänger ausdrücklich erwähnt werden, war das Volk bei dieser Versammlung ausschließlich auf das vorgelesene und erläuterte Gesetz fokussiert. Mit den auf dem Podium stehenden Männern waren weder die separat genannten Gesetzeslehrer noch die in Neh 12,27-43 namentlich erwähnten Sänger oder Musiker gemeint.1 Wenn es sich hier tatsächlich um die erste öffentliche Präsentation der gerade fertiggestellten revidierten Texte der Thora handelte, die das Volk offensichtlich verstand, wäre es naheliegend, anzunehmen, dass neben Esra auch die weiteren Mitglieder seines Revisoren-Teams mit ihm vor die Menge traten – auch wenn wir das heute natürlich nicht mehr sicher wissen können.

Jedenfalls war den Mitgliedern des Revisoren-Teams – wie es auch immer zusammengesetzt war – die Bedeutung „(militärische) Einheit“ der Konsonantenfolge אלף (ALP) nicht mehr bekannt, weil sie schon lange nicht mehr in Gebrauch war. Da dieses Wort häufig im Zusammenhang mit Zahlen vorkam, interpretierten sie es als Zahlwort „Tausend“. Wo dadurch in den Zensuslisten und einigen wenigen weiteren Fällen in den frühen Büchern (bis zum Richterbuch) zwei direkt aufeinanderfolgende Tausenderzahlen entstanden, wurden sie zu einer Tausenderzahl zusammengefasst.2 Ähnlich wie in Abschnitt ‎7.3.2.1 für die Verwechslungen von ALuPh mit dem konsonantengleichen Wort ÄLäPh gezeigt, kam es dabei zu einer Anpassung der grammatikalischen Formen an den damals geltenden – und im biblischen Hebräisch noch heute aktuellen – Standard für das Zahlwort „Tausend“.

Soviel in aller Kürze zu einem möglichen Ablauf einer Textrevision des AT-Kanons. Sehr viel ausführlicher erläutere ich dieses Thema in Kapitel 14, wo ich auch meine auf Kontextangaben beruhenden Vorschläge zur Entstehung der Texte und ihrer Überlieferung über die Zeit des Exils hinweg vorstelle. Im nächsten Abschnitt möchte ich in einem kurzen Exkurs noch auf einen in diesem Zusammenhang interessanten Artikel von Denise Flanders eingehen.

  • 1 Von den Namen der 13 auf dem Holzgerüst stehenden Männern (Neh 8,4) kommt nur der Name Maaseja auch bei den Lehrern in Neh 8,7 vor. Und in Neh 12,27-43, wo eine größere Zahl von Sängern und Musikern aufgelistet ist, erscheinen nur die folgenden vier Namen aus Neh 8,4: Maaseja (Neh 12,41+42), Malkija (Neh 12,42), Secharja (Neh 12,34+41) und Meschullam (Neh 12,33). Hierbei muss es sich nicht um die gleichen Männer handeln, da diese Namen nicht selten sind.

    2 Vgl. Grundannahme 3) in Abschnitt ‎1.4. Einen möglichen Grund, warum Gott einen solchen Fehler in seinem Wort zugelassen haben könnte, habe ich am Ende von Abschnitt ‎1.5 kurz angerissen und werde ich in Abschnitt ‎15.3 noch etwas detaillierter ausführen.