Im Rahmen dieser Arbeit werden alle in den Geschichtsberichten des Alten Testaments vorkommenden Zahlen ab 20.000 (nach konventioneller Lesart) und höher untersucht, daneben auch niedrigere 1.000er-Zahlen, die im engen Kontext mit Zahlen ab 20.000 vorkommen oder die nach konventioneller Lesart zu innerbiblischen Widersprüchen führen. Die Untersuchung ist auf die Frage gerichtet, ob durch eine Neubewertung der in den Zahlen enthaltenen ÄLäPh auf Basis der in Abschnitt ‎1.4 dargestellten Grundannahmen realistischere Zahlen bzw. plausiblere Geschehensberichte erreicht und innerbiblische Widersprüche aufgelöst werden könnten.

Wie bei vielen historischen Berichten aus der Zeit vor dem 4. Jh. v. Chr. sind jedoch auch bei den alttestamentlichen Geschichtsberichten nicht immer alle für das Verstehen der Zusammenhänge und Hintergründe relevanten Details angegeben. Die Autoren konnten bei ihren Zeitgenossen damals die uns heute fehlenden Informationen als bekannt voraussetzen. Zur Füllung solcher Informationslücken müssen Annahmen getroffen werden. Dies gilt in den historischen Wissenschaften ganz generell, wie Zerbst im folgenden Zitat zum Ausdruck bringt:

Die Aufgabe des Geschichtswissenschaftlers […] besteht im Entwurf eines Bildes – d.h., eines Modells oder einer Theorie – der Vergangenheit, das die Information aus den zeitgenössischen Quellen in möglichst plausibler Weise interpretiert.1

Entsprechend müssen auch bei der Deutung der alttestamentlichen Geschichtsberichte Annahmen getroffen werden, die die vorhandenen Informationen zu einer plausiblen Theorie (oder einem Szenario) über das damalige Geschehen verbinden. Dies zeigt sich sehr deutlich bei der Verfilmung von biblischen Geschichten, da hierbei umfangreiche zusätzliche Informationen benötigt werden, um ein verwertbares Drehbuch zu erhalten. Solche Annahmen werden beim Bibellesen meist unbewusst getroffen, da man sich dabei abhängig von den eigenen Vorkenntnissen automatisch ein Bild des Geschehens macht. Dabei geht man oft von heutigen Verhältnissen aus oder bezieht schon lange bestehende Auslegungstraditionen mit ein, denen aber ebenfalls häufig – nicht unbedingt immer richtige – Annahmen zugrunde liegen. Bei einer Untersuchung des Kontextes einer neu bewerteten Zahl sind daher die ausdrückliche Textaussage und zu deren Deutung zusätzlich getroffene Annahmen sorgfältig zu unterscheiden. Da außerdem bei einer Übersetzung wegen der nicht deckungsgleichen Wortbegriffe in Ursprungs- und Zielsprache häufig schon eine Deutung vorliegt, muss dafür der hebräische Grundtext mit herangezogen werden. 

Dass bei einem solch weitgefassten Thema, das nahezu alle Geschichtsbücher des Alten Testaments und einen Zeitraum von rund 1.000 Jahren von Mose bis Esra umfasst und das bei mehr als 300 untersuchten Zahlen zur Neubewertung von 242 Tausender-Zahlen führt, zunächst nur ein Überblick geboten und nicht zu jedem Einzelthema die bisherige Auslegungsgeschichte diskutiert werden kann, versteht sich von selbst. Zudem kommt es durch die Neubewertung der Zahlen häufig zu neuen Fragestellungen, zu denen bisher in theologischen Kommentaren keine Aussagen vorliegen bzw. vorliegende Aussagen relativiert werden müssten. Tatsächlich wirken die neuen Zahlen häufig wie ein Katalysator oder Schlüssel, um die Geschichten mit neuen Augen zu sehen. Ich beschränke mich daher methodisch im Wesentlichen auf die Auswertung des Alten Testaments als Primärquelle und verzichte weitgehend auf die Einbeziehung von sekundären Quellen zur Auslegung der AT-Texte. Außerbiblische Quellen nutze ich vor allem für einzelne technische und praktische Fragen sowie in begrenztem Umfang für geografische, geschichtliche, archäologische und chronologische Bezüge. Auch in diesen Fällen kommen aber aufgrund des breiten Themenspektrums dieser Arbeit nur Quellen in Frage, die einen möglichst kurzen Überblick über das jeweilige Einzelthema bieten. Eine detailliertere Untersuchung einzelner Themen unter Einbeziehung weiterer sekundärer Quellen bleibt damit Spezialisten für die jeweiligen Teilgebiete überlassen.

Aufgrund der Beschränkung der Untersuchung auf das Alte Testament und dem weitgehenden Verzicht auf eine Diskussion außerbiblischer Geschichtsquellen bzw. von Sekundärliteratur zur Auslegung des AT bei vielen Einzelthemen, kann diese Ausarbeitung nicht den Anspruch erheben, in jedem Fall bis ins Detail sichere Deutungen des AT-Kontextes zu bieten. In vielen Fällen können die letzten Einzelheiten heute sowieso auch mit detaillierteren Untersuchungen nicht mehr zweifelsfrei rekonstruiert werden. Trotzdem ist es wichtig, die neubewerteten Zahlen in ihrer Einbettung in ihren Kontext zu überprüfen. Ich versuche daher jeweils ein plausibles Szenario aufzustellen, in dem alle vorhandenen Kontextinformationen des Alten Testaments widerspruchsfrei untergebracht werden können. Um bei solchen Szenarien alle – auch scheinbar nebensächliche – Kontextinformation berücksichtigen zu können, musste ich in manchen Fällen, bei denen nur ziemlich lückenhafte Angaben vorlagen, umfangreichere Annahmen treffen, die mir den Vorwurf der Spekulation einbringen könnten. Ein Beispiel dafür sind meine Überlegungen zur Siedlungsgeschichte der Midianiter, die erklären würden, wie es zu der im AT-Text beschriebenen engen Verbindung zwischen Moabitern und Midianitern auf politischem Gebiet und dem gemeinsamen Baals-Kult im Gebiet östlich des Jordans kam und wieso die Midianiter gleichzeitig Verbindungen zu dem weit entfernt im Gebiet jenseits des oberen Euphrat lebenden Propheten Bileam hatten (siehe ‎4.1). Diese Überlegungen zum Siedlungsgebiet der Midianiter und dem darauf basierenden Ablauf des Kriegszuges gegen diese dienen der Plausibilisierung der neubewerteten Zahlen beim dabei erbeuteten Vieh und den gefangenen Jungfrauen (siehe ‎8.4). Es geht hier nicht um aus der Luft gegriffene Spekulationen, sondern um die Verarbeitung und kontextkonforme Ergänzung von konkreten Hinweisen auf geschichtliche Abläufe im Text.

Die Alternative zur Aufstellung solcher Szenarien unter Einbeziehung von zusätzlichen Annahmen wäre, solche vom Autor sicher nicht grundlos angegebenen Informationen zu ignorieren und ein stark vereinfachtes Bild zu zeichnen, was ich bei einem alttestamentlichen Text genauso wenig für angemessen halte, wie bei jeder anderen Geschichtsquelle. Die von mir in solchen Fällen vorgeschlagenen ergänzenden Annahmen verstehe ich jeweils als Einladung zu einer künftigen Diskussion auch unter Einbeziehung weiterer historischer Quellen (sofern es solche gibt), die durchaus zur künftigen Entwicklung tragfähigerer Vorschläge führen kann (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Die dargestellten Szenarien dienen somit nicht der Beweisführung, dass ein Geschehen genau auf diese Weise abgelaufen ist, sondern nur dem Nachweis, dass die von mir vorgeschlagene Neubewertung einer Zahl, die auf einer Anwendung der hier vorgeschlagenen Grundannahmen und eines Quervergleichs mit anderen im AT genannten Zahlen beruht, möglich ist, d.h. zusammen mit allen Kontextangaben zu einem plausiblen Bild führt. So ergibt sich zwar kein zwingender Beweis dafür, dass die dem AT-Bericht zugrundeliegenden Ereignisse bis ins Detail korrekt rekonstruiert sind, aber das Argument gegen die Historizität des Berichts, das sich auf die unrealistisch hohen Zahlen und die im Zusammenhang damit bestehenden innerbiblischen Widersprüche stützt, kann dadurch widerlegt werden.

Dies kann bibelgläubigen Menschen helfen, entgegen der Mainstream-Meinung an ihrem Glauben an die Historizität des Alten Testaments festzuhalten, jedoch gleichzeitig immer im Bewusstsein zu behalten, dass wir manche Aussagen in den Geschichtsberichten des Alten Testaments falsch gedeutet haben könnten und wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus den Gebieten Geschichte, Archäologie oder Geografie dazu beitragen können, bisher missverstandene Aussagen des AT besser zu verstehen. Aber auch bei wissenschaftlichen Ergebnissen gilt das oben zum AT gesagte: Es ist zwischen objektiven Daten und deren subjektiver Deutung sorgfältig zu unterscheiden. Bei anderen geschichtlichen Quellen oder archäologischen Funden sind die Informationen oft noch weit lückenhafter als bei den alttestamentlichen Geschichtsberichten. Dort müssen deshalb sogar meistens noch wesentlich mehr Annahmen getroffen werden, um Theorien zu deren Deutung aufstellen zu können. Und auch wenn diese Theorien längst zur herrschenden Lehrmeinung geworden sind, können die zugrundeliegenden Annahmen und damit die ganze Theorie falsch sein.2 Das gilt erst recht, wenn diese Annahmen auf wissenschaftlich nicht begründbaren Vorentscheidungen beruhen – wie z.B. dem generellen methodischen Ausschluss des Alten Testaments als ernstzunehmende Geschichtsquelle.

  • 1 Uwe Zerbst: Die Bibel vor der Wahrheitsfrage. Eine hermeneutische, theologische und archäologische Annährung. 2018, Url: www.academia.edu (Aufruf:16.09.2019), S. 19

    2 Ein Beispiel dafür ist die ägyptische Chronologie, bei der die seit langem herrschende – und der biblischen Chronologie widersprechende – Lehrmeinung zunehmend auch von nicht bibelgläubigen Wissenschaftlern angezweifelt wird (siehe 1.6.1 und 4.4.2 und ‎10.1.1)