Neben der oben zitierten Lesart des Masoretischen Textes (MT) gibt es weitere Lesarten dieses Bibelverses. So hat die Septuaginta (LXX), die aus dem 3. bis 2. Jh v. Chr. stammende griechische Übersetzung des AT, in 2Mose 12,40 folgende Ergänzungen (fett gedruckt):

40 Aber der Aufenthalt der Söhne Israels, welche sich aufgehalten hatten im Land Ägypten und im Land Kanaan, (war) 30 Jahre und 400 Jahre.

Der Samaritanische Pentateuch (SAM) hat zusätzlich noch eine weitere Ergänzung:

40 Aber der Aufenthalt der Söhne Israels und ihrer Väter, welche sich aufgehalten hatten im Land Ägypten und im Land Kanaan, (war) 30 Jahre und 400 Jahre.

Hendrik J. Koorevaar hat die Lesarten textkritisch untersucht, wobei er die drei Optionen, dass jede der drei Lesarten die ursprüngliche sein könnte, geprüft hat. Er kommt nach ausführlicher Diskussion der möglichen Gründe für absichtliche oder versehentliche Hinzufügungen oder Weglassungen gegenüber dem ursprünglichen Text – jeweils aus Sicht aller drei Optionen –, zu dem Ergebnis, dass der Masoretische Text der ursprüngliche ist. Dieses Ergebnis sieht er auch in Übereinstimmung mit dem textkritischen Prinzip der lectio brevior (der kürzeste Text ist der ursprüngliche).1 Keine Übereinstimmung sieht er mit dem textkritischen Prinzip der lectio difficilior (die schwierigere Lesart ist die ursprüngliche),2 da er die Lesart des Masoretischer Textes für an sich leicht verständlich hält.3 Dementsprechend folgt er auch der landläufigen Übersetzung, dass die Söhne Israels 430 Jahre in Ägypten verbrachten.4

Seiner textkritischen Bewertung, dass der Masoretische Text der ursprüngliche ist, ist zuzustimmen. Dies kann durch die in Abschnitt ‎5.1.2 dargestellten Übersetzungs- und Interpretationsregeln, die zu 215 Jahren in Ägypten führen und die die Lesart des Masoretischen Textes zusätzlich auch als die schwierigste kennzeichnen, sogar noch weiter unterstützt werden. Damit trifft auch das textkritische Prinzip der Lectio difficilior zu. Nicht zutreffend ist jedoch seine Aussage, dass das Volk Israel 430 Jahre in Ägypten verbracht hat.

Im Anschluss an seine textkritische Untersuchung hat Koorevaar weitere Überlegungen angestellt. Diese sollen nachfolgend auszugsweise zitiert werden:

Die Frage ist auch: Wie ging das Judentum mit der Information um? Prinzipiell kommen zwei Möglichkeiten in Betracht:

  (a)  Die Texte wurden interpretiert, selbst jedoch nicht angetastet. Man war von der Richtigkeit einer bestimmten Aussage überzeugt und alle anderen Aussagen, die damit scheinbar im Widerspruch stehen, wurden so interpretiert, dass sie mit der ersten Aussage übereinstimmen (Harmonisierung). Dieses Vorgehen ist an sich nicht falsch oder gezwungen, sondern es kann wirklich korrekt sein. Ein Leser kann Widersprüche sehen, die nicht vorhanden sind, und die für den ursprünglichen Schreiber oder Redaktor auch nicht vorhanden waren.

  (b)  Die zweite Möglichkeit bestand darin, dass man in einem Text des Alten Testaments eingegriffen hat, zumindest in manche Texttraditionen. Waren die Bearbeiter der Meinung, dass mit dem Text selbst etwas nicht stimmte? Wahrscheinlich nicht. Sie hatten aber bemerkt, dass einige Leser oder Hörer die Texte falsch verstanden hatten und als widersprüchlich gegeneinander ausspielten. Um dies zu verhindern, verdeutlichten oder verbesserten sie den Text, und zwar in Übereinstimmung mit seiner eigentlichen Bedeutung und zum Schutz unkundiger Hörer und Leser.5

Auch diesen Aussagen Koorevaars ist zuzustimmen. Die Vertreter des Masoretischen Textes (MT) haben 2Mose 12,40 analog zu Möglichkeit (a) wie in Abschnitt ‎5.1.2 dargestellt – korrekt – interpretiert und kamen so zu dem Ergebnis von 215 Jahren in Ägypten. Die Schreiber des Samaritanischen Pentateuch (SAM) bzw. die Übersetzer der Septuaginta (LXX) haben analog zu Möglichkeit (b) gegenüber dem ursprünglichen Text (= MT), den sie – für uns nachvollziehbar – als missverständlich ansahen, Einfügungen vorgenommen, um zu dem ihnen vermutlich aus traditionellen Überlieferungen bekannten richtigen Ergebnis von 215 Jahren zu kommen. Dieses Ziel hat aus heutiger Sicht allerdings nur der Samaritanische Pentateuch vollständig erreicht. Der Text der Septuaginta bleibt für uns heute weiter missverständlich, da er nicht erklärt, wie die Söhne Israels schon vor ihrer Geburt in Kanaan leben konnten. Diese Frage könnte allerdings der Übersetzer dieses Abschnitts der LXX noch als unproblematisch angesehen haben, wenn die Antwort darauf zur Zeit der Übersetzung (etwa 3. bis. 2. Jh. v. Chr.) noch allgemein bekannt war (siehe die Ausführungen in Abschnitt ‎5.1.2 zum Schreiber des Hebräerbriefes und zu Paulus).

Somit bleibt festzuhalten, dass auch das Ergebnis der textkritischen Untersuchung einer Aufteilung der 430-Jahresfrist in 215 Jahre in Kanaan und 215 Jahre in Ägypten nicht widerspricht, sondern diese sogar noch weiter bestätigt. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zusätzlich eine Erklärung, wie es zu den unterschiedlichen Lesarten gekommen sein könnte.

  • 1 Lectio brevior: Man geht davon aus, dass Abschreiber es eher gewagt haben, eine Erläuterung zu einer missverständlichen Aussage in den heiligen Schriften hinzuzufügen, als etwas aus diesen Schriften wegzulassen. Deshalb ist i.d.R. die kürzeste Lesart die ursprüngliche.

    2 Das Prinzip der lectio difficilior besagt, dass ein Abschreiber mit einem Eingriff in den ursprünglichen Text das Ziel verfolgte, diesen besser verständlich zu machen. Dass der Text durch einen gezielten Eingriff weniger verständlich gemacht wird, ist unwahrscheinlich.

    3 Vgl. Hendrik J. Koorevaar: Das Zeitalter der Erzväter und des Aufenthaltes Israels in Ägypten: ein textkritischer Beitrag. In: Volk ohne Ahnen? Auf den Spuren der Erzväter und des frühen Israel. Hg. von Peter van der Veen und Uwe Zerbst. Holzgerlingen: Hänssler 2013 (Studium Integrale), S. 239-251, hier: S. 245

    4 Vgl. ebd., S. 241

    5 Ebd., S. 245f