In Abschnitt ‎1.6.2 hatte ich auf die in den Berichten über den Ägyptenaufenthalt und den Exodus enthaltenen ägyptischen Lehnwörter hingewiesen, die starke Indizien für eine Niederschrift durch Zeitzeugen sind. Nach der biblischen Chronologie fand der Exodus etwa in der Mitte des 15. Jh. v. Chr. statt. Diese zeitliche Einordnung begründe ich in den Abschnitten ‎9.1ff ausführlich (kurzer Überblick siehe ‎9.1.7). Die letzten geschichtlichen Berichte des alttestamentlichen Kanons in den Büchern Ester, Esra und Nehemia wurden im 5. Jh. v. Chr. verfasst. In diesen Büchern weist ein ähnlich großer Anteil alt-iranischer Lehnwörter ebenfalls auf eine Verfassung durch Zeitzeugen hin (siehe ‎1.6.2). Man kann also davon ausgehen, dass die alttestamentlichen Geschichtsberichte über einen Zeitraum von rund 1.000 Jahren von vielen zeitgenössischen Autoren mit unterschiedlichem Hintergrund und Bildungsstand verfasst wurden. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass alle diese Autoren die doch ausgesprochen unlogischen Regeln für die Pluralbildung des Wortes ÄLäPh so konsequent einheitlich angewendet haben, wie wir sie heute vorfinden (siehe ‎7.3.2.1). So war eine Textrevision schon deshalb notwendig, damit die grammatikalischen Formen vereinheitlicht wurden.

Außerdem unterliegt Sprache einer Entwicklung. Das betrifft nicht nur die Morphologie, d.h. die grammatikalischen Formen, sondern auch und vor allem die Semantik, d.h. die Wortbedeutungen. Einzelne Wörter kommen außer Gebrauch oder verändern sich in ihrer Bedeutung. Neue Wörter werden aus anderen Sprachen entlehnt und verdrängen bisher gebräuchliche. Als Beispiel kann hier das deutsche Wort „Kutsche“ genannt werden, das ungarische Wurzeln hat und dessen Vorformen (Gutsche, Gotzi, Kotsche, Kutze) erstmals im 16. Jh. in der deutschen Sprache belegt sind. Im 19. Jh. wurde mit „Kutsche“ ein i.d.R. von Pferden gezogenes gefedertes Fuhrwerk mit festem oder beweglichem Verdeck, bezeichnet.1 Dieses Wort wurde mit dem Aufkommen der Motorfahrzeuge immer seltener gebraucht. Stattdessen wurde für die Motorfahrzeuge das neue Wort „Automobil“ eingeführt, das aufgrund seines mit der Zeit häufigeren Gebrauchs später zu „Auto“ verkürzt wurde. In neuerer Zeit hat sich – neben der weiter vorhandenen ursprünglichen Bedeutung – in der Umgangssprache das Wort „Familienkutsche“ für größere Autos, die besonders gut für Familien geeignet sind, etabliert.2 Diese Entwicklung hat nur rund 500 Jahre benötigt.

So lange liegt etwa auch die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther zurück. Hier wurden schon seit der zweiten Hälfte des 19 Jh. mehrere umfassende Textrevisionen durchgeführt, die den Text – ohne ihn seines Sprachstils zu berauben – vorsichtig an den modernen Sprachgebrauch anpassten, die letzte 2017.3 Die Originalübersetzung weicht ziemlich stark von unserer heutigen Grammatik und Rechtschreibung ab und eine größere Anzahl der dort verwendeten Begriffe würden heute falsch oder gar nicht mehr verstanden. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass auch damals im 5 Jh. v. Chr. die ältesten AT-Texte – 1.000 Jahre nachdem sie verfasst wurden – nur noch schwer verständlich waren. Dies gilt erst recht, wenn man berücksichtigt, dass die damaligen Texte in einer reinen Konsonantenschrift geschrieben waren – die Vokale also fehlten – und manche der nur mündlich überlieferten Aussprachetraditionen nach einem Einschnitt, wie ihn das babylonische Exil darstellt, verlorengegangen waren.

In Babylon sprachen viele Juden in ihrem Berufsalltag aramäisch. Dies führte zu einer Verarmung im Wortschatz bzw. ganz allgemein zu einer schlechteren Beherrschung der hebräischen Sprache. Als im Jahr 536 v. Chr. die ersten Israeliten unter Serubbabel wieder in das Land Israel zurückkehrten (Esra 1,1), waren seit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586/587 v. Chr. 50 Jahre vergangen. Auch wenn es unter diesen Rückkehrern noch manche gab, die im Land Israel mit der hebräischen Sprache aufgewachsen waren (Esra 3,12), hatten sie doch nach 50 Jahren im Ausland nicht mehr die gleiche Sprachbeherrschung wie ihre Vorfahren. Die meisten der Rückkehrer waren im Exil geboren. Bei den späteren Rückkehrern unter Esra im Jahr 458 v. Chr. (Esra 7,6-8) – 128 Jahre nach der Wegführung – waren sogar schon mehrere Generationen ihrer Vorfahren im Exil geboren.

Neben einer Textrevision, die die alten Texte vorsichtig an den aktuellen Sprachgebrauch anpasste, war für deren Verständnis deshalb auch Sprachunterricht erforderlich, der die hebräischen Sprachkenntnisse wieder vertiefte und den Wortschatz erweiterte. Auch dafür und als Lehrbuch für eine Vermittlung der hebräischen Sprache und Schrift an die nachfolgenden Generationen konnte eine revidierte Fassung der heiligen Schriften dienen. Eine Unterweisung in den heiligen Schriften, die gleichzeitig die Kenntnis der hebräischen Sprache vermittelte, gab es für jüdische Jungen auch während des jahrhundertelangen Exils nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. Als Erwachsene mussten sie in der Lage sein, im Gottesdienst in der Synagoge aus der Thora vorzulesen. Dies hat die Kenntnis des Hebräischen als Sakralsprache zumindest bei den gläubigen Juden wachgehalten. Im Zusammenhang mit den Rückkehrbestrebungen vieler Juden in das Land Israel wurde die hebräische Sprache im letzten Jahrhundert unter Federführung von Elieser Ben Jehuda nach 1.800 Jahren Exil sogar als Alltagssprache wiederbelebt.4 Eine ähnliche Situation lag auch im 5. Jh. v. Chr. bei einem allerdings wesentlich kürzeren Exil vor.