Auf die im vorausgehenden Abschnitt ermittelten 70 bis 80 Jahre als Obergrenze für die Arbeitspflicht in Ägypten und für den Heeresdienst folgten damals noch einige Jahre oder Jahrzehnte, auf die die Menschen nicht mehr so stolz waren, weil sie immer weniger leistungsfähig und immer abhängiger von der Unterstützung anderer wurden. Ich deute deshalb den in Ps 90,10 genannten Zeitraum auf die ersten 70 bis 80 Lebensjahre, die zur Zeit Moses die Ausbildungszeit als Kind und das anschließende Arbeitsleben in Ägypten umfassten. Danach folgte noch eine Zeit des Ruhestandes, über deren Länge in diesem Vers nichts ausgesagt wird.

Wie in Abschnitt ‎5.2.1 aufgezeigt, gab es bei der Lebenserwartung damals eine deutlich absteigende Tendenz. Nach Lebensalter-Angaben von 175, 180 und 147 Jahren bei Abraham, Isaak und Jakob wird am Anfang des Ägyptenaufenthalts bei Josef noch ein Lebensalter von 110 Jahren angegeben. Lediglich bei Levi (137) und seinen Nachkommen Kehat (133) und Amram (137) werden noch Lebensalter-Angaben über 130 Jahren gemacht. Aber auch deren beim Exodus noch lebende Nachkommen Mose (120), Aaron (123) und Miriam (ca. 126) erreichten keine 130 Jahre mehr. Zu einem Rückgang der Lebenserwartung bei den Männern dürfte am Ende des Ägyptenaufenthalts auch die harte körperliche Arbeit im Dienst der Ägypter beigetragen haben, die spätestens ab dem 135. Jahr des Ägyptenaufenthalts – also in den letzten 80 Jahren in Ägypten – zu leisten war. Wenn die Altersgrenze für den Arbeits- und später für den Heeresdienst bei 70 bis 80 Jahren lag, hätte ein beim Auszug aus Ägypten 120-Jähriger immerhin 30 bis 40 Jahre harte körperliche Arbeit geleistet gehabt, ein 80-Jähriger sogar 50 bis 60 Jahre. Für den Zeitpunkt des Exodus orientiere ich mich daher an den niedrigeren Altersangaben der zu dieser Zeit lebenden Personen Mose, Aaron und Miriam von etwa 120 bis 125 Jahren als Höchstalter – mit weiter sinkender Tendenz. Einzelne mit der Zeit immer seltenere Überschreitungen dieser Altersgrenze sind aber auch nach dem Exodus noch denkbar. Für den Hohepriester Jojada wird noch in der Königszeit ein Alter von 130 Jahren angegeben (2Chr 24,2+15-16).

In Deutschland liegt das Renteneintrittsalter heute bei 63 bis 67 Jahren1 bei einem höchsten Lebensalter von etwa 105 Jahren (nur ganz wenige Menschen werden noch älter). Ausgehend von der höheren Altersgrenze ergibt sich eine maximale Ruhestandsdauer von (105 – 67 =) 38 Jahren, d.h. die Ruhestandsdauer beträgt 36,2 % des Höchstalters. Das scheint auf den ersten Blick ziemlich lang zu sein. Man muss aber bedenken, dass nur ein kleiner Prozentsatz tatsächlich das Höchstalter von 105 Jahren erreicht und selbst viele von den etwa 19 %, die ein Alter von 90 Jahren überschreiten, schon ziemlich gebrechlich oder sogar bettlägerig sind. Bei einem Höchstalter von 125 Jahren bei den Israeliten in der Zeit des Exodus ergab sich ausgehend vom 80. Lebensjahr eine maximale Ruhestandsdauer von (125 – 80 =) 45 Jahren. Absolut gesehen war die maximale Ruhestandsdauer also damals etwas höher, in Prozent ausgedrückt war sie mit 36,0 % des Höchstalters aber nahezu identisch mit der heute in Deutschland vorliegenden. Ebenfalls fast identisch ist das Verhältnis der „Lebenszeit bis zum Ruhestandsbeginn“ zur „maximalen Ruhestandsdauer“. Es beträgt heute in Deutschland 67 : 38 = 1,76, während es bei den Israeliten damals 80 : 45 = 1,78 betrug. Die Deutung der Altersangaben in Ps 90,10 als Altersobergrenze für die Arbeitspflicht zur Zeit Moses führt somit zu erstaunlich ähnlichen Verhältnissen wie die heute in Deutschland geltenden Altersgrenzen für den Renteneintritt.

Mit einer von der noch vorhandenen Kraft abhängigen Altersgrenze von 70 bis 80 Jahren gab es außerdem schon damals – wie bei uns heute – eine flexible Altersgrenze für das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Mit einer solchen Regelung war es möglich, die Gruppen bei der Integration neuer junger Jahrgänge immer ziemlich genau bei der Sollstärke von 50 Mann zu halten. Der neueintretende Jahrgang war bei einem stark wachsenden Volk um ein Vielfaches größer als der jeweils ausscheidende Jahrgang. Deshalb mussten bei der Integration des jeweils nächsten Jahrgangs, neue Gruppen gegründet werden. Um eine gute Altersstruktur mit kräftigen jungen und erfahrenen älteren Arbeitern zu erreichen, mussten die Arbeitsgruppen bei der Integration eines neuen Jahrgangs neu zugeschnitten werden. Ein Szenario, wie eine solche Reorganisation der Arbeitsgruppen ausgesehen haben könnte, wird in Abschnitt ‎5.7.4 beschrieben. Es konnten dabei so viele 70- bis 80-jährige Alte von der Arbeitspflicht befreit werden, dass sich je Stamm wieder eine durch 50 teilbare Zahl (2Mose 13,18: ChaMuSchIM = 50er-Gruppen) ergab. Auch körperliche Leistungsfähigkeit und Gesundheitszustand konnten berücksichtigt werden.

Dieser Deutung als Ruhestandsgrenze bei den Fronarbeitern steht auch nicht entgegen, dass die Leviten nur vom 30. bis 50. Lebensjahr am Heiligtum Dienst tun durften (4Mose 4,2-3). Heute überschreitet ein Mensch, was sportliche Höchstleistungen angeht, schon mit etwa 30 bis 35 Jahren den Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Im Berufsleben, wo auch Berufserfahrung eine große Rolle spielt, wird die höchste Leistungsfähigkeit etwa mit 35 bis 45 Jahren erreicht. Danach geht die Belastbarkeit immer schneller zurück. In manchen Berufen zählt man mit 50 schon zum „alten Eisen“ und wird in den Vorruhestand geschickt. Beim Dienst im Heiligtum kam es auf äußerste Sorgfalt beim Einhalten der Vorschriften an. Es durften nur die besten und leistungsfähigsten Leviten Dienst tun. Deshalb lag die Altersgrenze für den Diensteintritt mit 30 Jahren deutlich höher als beim Heeresdienst. Es ist daher naheliegend, dass auch die Altersgrenze für das Ende des Dienstes am Heiligtum deutlich niedriger als beim Heeresdienst war. Bei den Leviten gab es außerdem auch für die über 50-Jährigen noch eine Aufgabe: Sie hatten den Wachdienst rund um die Stiftshütte zu versehen (4Mose 8,24-26),2 um zu verhindern, dass sich Unbefugte der Stiftshütte näherten, was deren Tod zur Folge gehabt hätte (4Mose 1,51).

Im weiteren Text wird zur einfacheren Darstellung ein Durchschnittsalter von 75 Jahren für die Freistellung vom Arbeits- bzw. Heeresdienst angenommen. Es ergeben sich somit für die Zeit des Exodus und des ersten Zensus drei Altersgruppen:

  • die unter 20-Jährigen
  • die 20- bis 75-jährigen (beim Zensus gezählt)
  • die über 75-Jährigen (vom Arbeits- bzw. Heeresdienst befreit)

Beim zweiten Zensus wurden keine über 60-Jährigen mehr gezählt, da außer Josua und Kaleb alle beim ersten Zensus Gemusterten umgekommen waren und die beim ersten Zensus noch unter 20-Jährigen nach 39 Jahren Wüstenwanderung diese Altersgrenze noch nicht überschritten hatten. Möglicherweise wurde diese Altersgrenze von 60 Jahren für den Heeresdienst auch später beibehalten. Dafür sprechen die für den Fall eines Gelübdes festgelegten Auslösebeträge von 50 Schekel bei 20- bis 60-jährigen Männern und 15 Schekel bei über 60-Jährigen (3Mose 27,3+7).

Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Deutung der Altersangaben in Ps 90,10 als Altersobergrenze für das Ende der Arbeitspflicht bzw. des Heeresdienstes bei den Israeliten in der Zeit des Ägyptenaufenthalts und danach beim ersten Zensus sowie die für dieses Zeitumfeld in den alttestamentlichen Berichten genannten Sterbealter ein plausibles Gesamtbild ergeben. Beides zusammen kann helfen, altersabhängige Sterberaten für die Israeliten in der Zeit des Exodus zu ermitteln. Wegen des erstaunlich ähnlichen Verhältnisses zwischen Ruhestandsbeginn und Höchstalter damals bei den Israeliten und heute in Deutschland kann dafür die heute in Deutschland vorliegende Sterbefallverteilung als Vergleich herangezogen werden. Bevor ich jedoch den Versuch unternehme, eine solche Sterbefallverteilung für die Israeliten zu ermitteln, möchte ich zunächst noch einige Faktoren aufzeigen, die ein damals höheres Lebensalter begünstigt haben könnten.