Aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung einer hochrangigen Midianiterin im Zusammenhang mit dem Baal-Peor-Kult schließe ich, dass die Midianiter bei diesem Kult neben den Moabitern eine wichtige Rolle spielten. Möglicherweise war Kosbi als Tochter eines Stammesfürsten der Midianiter eine führende Priesterin. Die Midianiter waren außerdem politisch eng mit den Moabitern verbunden. Dies wird daran erkennbar, dass die Moabiter sich mit den Ältesten Midians berieten, ehe sie nach Bileam schickten, und dass die Gesandtschaft aus Ältesten Moabs und Midians bestand (4Mose 22,4+7). Daraus lässt sich auch erkennen, dass die Midianiter Kontakt nach Norden in die Heimat Bileams hatten.

Die Midianiter stammten von Midian ab, dem Sohn Abrahams von seiner zweiten Frau Ketura (1Mose 25,1-2). Midian hatte fünf Söhne (1Mose 25,4), was fünf Stämmen und damit den fünf umgebrachten Königen der Midianiter (4Mose 31,8) entspricht. Abraham heiratete Ketura erst, nachdem Isaak im Alter von 40 Jahren geheiratet hatte (1Mose 24,67; 1Mose 25,1+20). Abraham war also 140 Jahre alt, da er bei Isaaks Geburt 100 Jahre alt war (1Mose 21,5). Von ihr bekam er sechs Söhne. Diese schickte er noch vor seinem Tod – er wurde 175 Jahre alt – mit Geschenken weg, damit sie das Erbteil Isaaks nicht schmälerten (1Mose 25,6-7). Das Alter der Söhne lag zu diesem Zeitpunkt maximal bei Ende 20 bis Anfang 30. Nur von zwei Söhnen – darunter Midian – werden auch Nachkommen genannt. Diese wurden daher wohl noch in Kanaan geboren. Die übrigen waren vermutlich noch nicht verheiratet, zumindest aber noch kinderlos.

Für Söhne Abrahams war es nicht erlaubt, eine Kanaaniterin zu heiraten – Abraham hatte deshalb seinen Knecht in sein Vaterland geschickt, um aus seiner Verwandtschaft eine Frau für Isaak zu nehmen (1Mose 24,2-4). Wenn Midian schon in recht jungen Jahren in Kanaan geheiratet hatte, könnte man annehmen, dass er eine Enkelin Moabs zur Frau nahm. Moab war der Sohn der erstgeborenen Tochter Lots, des Neffen Abrahams.1 Dies würde die enge Verbindung der Midianiter zu den Moabitern und den gemeinsamen Götzenkult verständlicher machen.

Nach 1Mose 25,6 entsandte Abraham die Söhne der Ketura gen Osten in das östliche Land. Als Jakob wegen Esaus Morddrohung zu seinem Onkel Laban aufbrach, wurde sein Ziel als Land der Söhne des Ostens bezeichnet (1Mose 29,1). Bileam sagte in seinem ersten Segen, dass Balak ihn aus Aram von den Bergen des Ostens hergeführt hatte (4Mose 23,7). Sowohl Bileams Wohnort als auch das Ziel Jakobs lagen in dem Gebiet jenseits des oberen Euphrat im Norden des heutigen Syrien (vom Land Kanaan aus etwa Richtung NordNordOst), in dem Abrahams Verwandtschaft lebte. Daraus schließe ich, dass auch Abraham seine Söhne in dieses Gebiet schickte, wo die vier vermutlich noch nicht verheirateten Söhne Frauen aus seiner Verwandtschaft nehmen konnten und alle sechs Unterstützung beim Aufbau einer eigenen Existenz fanden.

Midian zog mit seinen Söhnen und seiner moabitischen Frau vermutlich vom oberen Euphrat wieder nach Süden und siedelte sich näher bei den Moabitern an, wobei aber der Kontakt zur Verwandtschaft im Norden bis in die Zeit Bileams erhalten blieb. Aufgrund ihrer großen Herden ist eine nomadische oder halbnomadische Lebensweise wahrscheinlich (siehe ‎4.5.1). Möglicherweise reichte das Siedlungsgebiet der Midianiter sogar nach Süden bis in das Gebiet von Gilead, die unmittelbare Nachbarschaft der Moabiter, deren ursprüngliches Gebiet bis an den Jabbok reichte (siehe Anlage 6a). Diese Vermutung wird auch durch 1Mose 36,35 und 1Chr 1,46 bestätigt. Dort wird berichtet, dass Hadad, der vierte König von Edom, die Midianiter im Gebiet der Moabiter schlug – vermutlich in den Steppen Moabs am Toten Meer, wo auch der Götzenkult des Baal Peor beheimatet war. Diese Nachbarschaft und danach eine weitere Verschwägerung in den folgenden Generationen würde die enge politische Verbindung mit den Moabitern und den gemeinsamen Götzenkult am Berg Peor erklären. Wenn dies zutrifft, wären die Midianiter wohl von dem Amoriter-Stamm des Königs Og aus Baschan nach Osten vertrieben worden – wie die Moabiter von dem Amoriter-König Sihon nach Süden und die Ammoniter ebenfalls nach Osten.2 Dass die Vertreibung der Midianiter in der biblischen Überlieferung nicht erwähnt wird, könnte daran liegen, dass deren Vertreibung früher erfolgte, als die der Moabiter, die erst durch den bei Israels Eintreffen noch lebenden König Sihon erfolgte. Unabhängig von der unsicheren Siedlungsgeschichte der Midianiter nehme ich an, dass sie zur Zeit des Rachefeldzuges östlich von Baschan – und damit nördlich und nordöstlich des Landes Amon – lebten. Dafür spricht auch, dass der Tod der fünf Könige der Midianiter und Bileams in einem Atemzug genannt wird (4Mose 31,8), denn Bileam war auf dem Weg von den Moabitern nach Norden zurück zu seinem Wohnort im Norden des heutigen Syrien (4Mose 24,25) und hatte wahrscheinlich bei den Midianitern, die seine Berufung vorgeschlagen hatten, Station gemacht.

Auch das Gebiet, in das Mose nach seiner Flucht aus Ägypten kam, wird in 2Mose 2,15 als Land Midian bezeichnet. Moses Schwiegervater Reguël war Priester Midians mit dem Titel Jitro (2Mose 2,16; 2Mose 3,1; 2Mose 18,1). Dieses Land wird auf historischen Landkarten meist auf der arabischen Halbinsel östlich des Golfs von Akaba eingezeichnet, lag aber nach den biblischen Angaben tatsächlich auf der Sinai-Halbinsel, wo Moses Verwandtschaft lebte (siehe ‎10.4.4). Nach meiner Einschätzung zog nur eine Sippe der Midianiter noch weiter nach Süden bis in dieses Gebiet und siedelte sich auf der Sinai-Halbinsel an.3 Sie nannten ihr Land nach ihrem Stammvater Midian.4 Bei diesen Nachkommen Midians war der Kontakt zu ihren weiter nördlich lebenden Verwandten abgerissen. Sie verfielen deshalb nicht dem Kult des Baal Peor. Jitro kannte Jahwe, den Gott Israels, pries ihn als den höchsten Gott und opferte ihm, nachdem er von den Wundern bei der Befreiung Israels aus Ägypten hörte (2Mose 18,8-12). Die im Süden lebenden Nachkommen Midians waren daher von dem Rachefeldzug nicht betroffen.

Auch die Moabiter waren nicht von dem Rachefeldzug betroffen, obwohl sie maßgeblich an der Verführung der Israeliten zum Götzendienst beteiligt waren (4Mose 25,1). Sie durften als eng mit Israel verwandtes Volk nicht angegriffen werden (5Mose 2,9). Das verwundert, da die Midianiter als Nachkommen Abrahams näher mit Israel verwandt waren, als die von Abrahams Neffen Lot abstammenden Moabiter. Eine mögliche Erklärung für deren Verschonung könnte sein, dass in den Generationen der Söhne und Enkel Jakobs eine vielfache Verschwägerung mit den Moabitern erfolgte. Dann hätte eine engere Verwandtschaft zwischen Moab und Israel bestanden. Dieser Gedanke wird in Abschnitt ‎5.5.3 näher ausgeführt. Trotzdem blieben die Moabiter nicht ohne Strafe. Wegen des feindlichen Auftretens der Moabiter gegen Israel und weil sie Bileam angeworben hatten, es zu verfluchen, legte Mose fest, dass der Nachkomme eines moabitischen Elternteils bis in die zehnte Generation nicht in die Versammlung des Herrn kommen durfte, während Nachkommen von Edomitern oder Ägyptern nur bis in die dritte Generation ausgeschlossen waren (5Mose 23,4-9).

  • 1 Lot musste etwa ein Jahr vor der Geburt Isaaks aus Sodom fliehen und verlor seine Frau und all seinen Besitz (1Mose 19,23-26). Er lebte mit seinen beiden Töchtern in einer Höhle nahe bei Zoar nördlich des Toten Meeres in der Nähe des Jordan (1Mose 13,10). Seine beiden Töchter wurden von ihm schwanger, da sie sich keine Chance auf eine Heirat mehr ausrechneten (1Mose 19,29-38). In dieser Not-Situation ist es sehr wahrscheinlich, dass Lot bei Abraham Hilfe suchte, der nach einem kurzen Abstecher nach Gerar nun etwa 110 km entfernt in Beerscheba lebte (1Mose 21,22+32). Es ist naheliegend, dass der Kontakt Abrahams zu den beiden Enkeln Lots bestehen blieb.
    Midian wird als vierter Sohn der Ketura genannt, dürfte also frühestens fünf wahrscheinlicher etwa sieben Jahre nach Abrahams Heirat geboren sein. Er wäre dann bei der Wegsendung kurz vor Abrahams Tod 27 bis 28 Jahre alt gewesen und hätte selbst schon fünf Söhne gehabt.
    Moab wurde etwa zur gleichen Zeit wie Isaak geboren (1Mose 18,10+20-22; 1Mose 19,1+12-13+30+32). Bei der Geburt Midians war Moab somit etwa 47 Jahre alt. Eine Enkelin Moabs käme daher als Frau Midians in Frage.

    2 In Jos 13,25 wird ein Teil des Gad zugewiesenen südlichen Berglands Gilead als „das halbe Land der Söhne Ammons“ bezeichnet, obwohl die Israeliten die Ammoniter nicht angreifen durften (5Mose 2,19). Daher ist anzunehmen, dass die Ammoniter vordem Teile des südlichen Berglands Gilead bis zur Stadt Aroër, die gegenüber der Hauptstadt Rabba (heute Amman) lag, besiedelt hatten und auch sie von König Sihon nach Osten vertrieben wurden. Vermutlich leitete der König der Ammoniter daraus 300 Jahre später seinen Landanspruch gegenüber dem Richter Jefta ab (Ri 11,13+26+32-33). Dort wird ebenfalls Aroër erwähnt, auch hier das im Bergland Gilead nahe bei Rabba (Jos 13,25) und nicht das am Arnon (5Mose 2,36).

    3 In Jes 60,6 werden Midian und Efa genannt, die aus dem Land Saba kommen. Man könnte daher annehmen, dass es ein Sohn Efas, des ältesten Sohnes Midians, war, der zusammen mit Saba, dem ältesten Sohn von Midians Bruder Jokschan, nach Süden zog (1Mose 25,3-4). Da zur Zeit der Landnahme noch fünf Könige und somit fünf Stämme der Midianiter vorhanden waren, ist nicht anzunehmen, dass Efa selbst (und damit ein ganzer Stamm) nach Süden zog.

    4 So hatte Mose eine Nachfahrin Abrahams als erste Ehefrau. Die in 4Mose 12,1 genannte kuschitische Frau wäre dann eine Sklavin gewesen, die Mose – wie Abraham die Ketura (1Mose 25,1-2+6; siehe ‎5.5.2.1) – erst nach dem Tod seiner ersten Frau während der Wüstenwanderung als Nebenfrau nahm. Wenn es sich um eine Sklavin handelte, wäre die deshalb erfolgende Rebellion von Miriam und Aaron noch einigermaßen verständlich.