In 2Mose 1,7-11 wird berichtet, dass die Ägypter wegen der enormen Vermehrung der Israeliten Fronaufseher über die Israeliten setzten und sie zur Fronarbeit beim Bau von zwei Städten heranzogen, um die Vermehrung zu bremsen:

7 Die Söhne Israel aber waren fruchtbar und wimmelten und mehrten sich und wurden sehr, sehr stark, und das Land wurde voll von ihnen. 8 Da trat ein neuer König ⟨die Herrschaft⟩ über Ägypten an, der Josef nicht ⟨mehr⟩ kannte. 9 Der sagte zu seinem Volk: Siehe, das Volk der Söhne Israel ist zahlreicher und stärker als wir. 10 Auf, lasst uns klug gegen es vorgehen, damit es sich nicht noch weiter vermehrt! Sonst könnte es geschehen, wenn Krieg ausbricht, dass es sich auch ⟨noch⟩ zu unseren Feinden schlägt und gegen uns kämpft und ⟨dann⟩ aus dem Land hinaufzieht. 11 Daher setzten sie Arbeitsaufseher6 über es, um es mit ihren Lastarbeiten zu drücken. Und es baute für den Pharao Vorratsstädte: Pitom und Ramses.

6 w. Oberste der Zwangsarbeit

Aus Vers 11 ergibt sich nicht, dass die Israeliten zu rechtlosen Sklaven gemacht wurden. Sie behielten ihre eigenen Häuser, ihr Vieh und ihr Siedlungsgebiet. Es gab außerdem eine Art Selbstverwaltung. So gab es israelitische Vorarbeiter für die Organisation der Arbeit in den einzelnen Arbeitsgruppen (siehe ‎3.1.1.2) und einen Ältestenrat, der über innerisraelitische Angelegenheiten entscheiden konnte (siehe ‎5.2.2.2). Es wurden lediglich ägyptische Oberaufseher eingesetzt und eine Wachtruppe stationiert. Die Israeliten hatten der Fronarbeit beim Bau der beiden Vorratsstätte wahrscheinlich zugestimmt, um angedrohte schlimmere Maßnahmen wie gewaltsame völlige Entrechtung und Enteignung abzuwenden. Man kann diese Arbeitsverpflichtung daher m.E. nicht mit der Situation der schwarzen Sklaven auf den Baumwollplantagen in den Südstaaten der USA in der ersten Hälfte des 19. Jh. vergleichen. Eher könnte man sie mit der Verpflichtung zur Fronarbeit von leibeigenen Bauern vergleichen, die neben der Arbeit auf ihren Feldern dem Grundherrn Arbeit auf dessen Feldern schuldeten und die ebenfalls nicht ohne Erlaubnis wegziehen durften.

Der Beginn der Fronarbeit lag einige Jahre vor der im Anschluss berichteten Tötung der männlichen Babys und der in dieser Zeit erfolgten Geburt Moses (2Mose 1,15+16; 2Mose 2,1-3). Mose wurde 80 Jahre vor dem Exodus im 135. Jahr in Ägypten geboren (2Mose 7,7). Deshalb nehme ich an, dass der Beginn der Fronarbeit etwa im 125. Ägyptenjahr lag. Nach der Berechnung in Anlage 11, Tab. 12 (2. Textfeld rechts) wäre die Bevölkerung bei konstanter Wachstumsrate in 125 Jahren auf 6.836 Personen angewachsen gewesen. Dies ist das 53-fache der Ausgangsbevölkerung von 128 Personen. Dazu kommen noch die Nachkommen der rund 1.500 Sklaven, die Jakob mit nach Ägypten gebracht hatte. Für diese habe ich in den ersten 70 Jahren einen Anstieg auf 4.000 Personen und danach eine Stagnation der Population angenommen (siehe ‎5.5.2.5). Unmittelbar vor dem Bericht über die Fronarbeit wird in 2Mose 1,7 beschrieben, dass das Volk sich überaus stark vermehrte und das Land von ihnen voll wurde. Deshalb dürfte das Land Gosen, das ursprünglich für 128 Personen mit ihrem Vieh und rund 1.500 Knechten und Mägden zugewiesen wurde, inzwischen so dicht besiedelt gewesen sein, dass es bei weiterer Vermehrung die Bevölkerung nicht mehr allein durch Viehwirtschaft hätte ernähren können. Zerbst schreibt über den Archäologen Sir Flinders Petrie, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee zur Übersetzung des Begriffs ÄLäPh mit „Gruppe“ aufbrachte, folgendes:

Petrie sah sich zu einer alternativen Interpretation der Zahlen gezwungen, da er davon ausging, dass sowohl das Land Gosen, als auch der Sinai nicht mehr als 5000 Hirten hätte ernähren können.1

Ähnlich sah es, was das Land Gosen betraf, wohl damals auch der Pharao. Die Befürchtung, dass sie bei weiterer Vermehrung zusätzliches Siedlungsgebiet erobern wollten, war daher naheliegend. Da sich die israelitische Bevölkerung bei der angenommenen Wachstumsrate von 3,2335 % etwa alle 21,8 Jahre verdoppelte (siehe Anlage 11, Tab. 12, 1. Textfeld rechts oben), war das Problem auch durchaus drängend.

Trotzdem ist die Aussage, dass das Volk zu diesem Zeitpunkt zahlreicher und stärker als die Ägypter war, auf den ersten Blick kaum nachvollziehbar. Aus einer Gesamtbevölkerung von 6.836 Personen ergeben sich etwa halb so viele Männliche und mit dem Umrechnungsfaktor aus Anlage 12, Tab. 14a von 2,18 lediglich (6.836 ÷ 2 ÷ 2,18 =) 1.568 wehrfähige Israeliten zwischen 20 und 75 Jahren. Hierbei sind allerdings die Leviten mit weiteren etwa (1.568 ÷ 11 =) 143 Mann noch nicht berücksichtigt. Und wie einst bei Abraham konnten auch aus den Sklaven der Israeliten kampffähige Männer rekrutiert werden. Selbst wenn die Populationszahl bei diesen inzwischen bei rund 4.000 Personen stagnierte (siehe ‎5.5.2.5) dürften dies noch rund 1.500 Männer gewesen sein. So ergaben sich wahrscheinlich insgesamt etwa 3.200 kampffähige Männer.

Man muss zusätzlich bedenken, dass Abraham und seine Nachkommen als reiche Fremdlinge immer in Gefahr waren, beraubt zu werden. Deshalb waren vermutlich alle Männer irgendwie bewaffnet und kampfgeübt (siehe 1Mose 14,14-15; 1Mose 34,25-27). Auch in dem im östlichen Nildelta gelegenen Land Gosen waren die Israeliten als Eigentümer großer Vieherden immer von räuberischen Volksstämmen bedroht, die begehrlich auf den Reichtum Ägyptens blickten, so dass sie kampfbereit sein mussten. Dies wird bestätigt durch einen Bericht über die von Viehdieben aus Gat umgebrachten Männer aus dem Stamm Ephraim in 1Chr 7,21 – der im hebräischen Grundtext zweideutige Bericht wird in den meisten Übersetzungen m.E. zu Unrecht genau umgekehrt gedeutet.2 

In dieser Zeit während der Zweiten Zwischenzeit dürfte Ägypten in mehrere Teile, die jeweils einem eigenen Pharao unterstanden, aufgeteilt gewesen sein. Der über das Ostdelta des Nil herrschende Pharao hatte wahrscheinlich kein sehr großes Heer und der größte Teil davon dürfte für die Grenzfestungen zum Sinai benötigt worden sein. Wenn im Falle einer Revolte der Israeliten die meisten Soldaten aus den Grenzfestungen zum Sinai abgezogen worden wären, hätte dies einen Angriff der dort lebenden räuberischen Volksstämme geradezu herausgefordert. Damit waren die Israeliten und ihre Sklaven mit ca. 3.200 wehrfähigen Männern wahrscheinlich tatsächlich zahlreicher als die frei verfügbaren Soldaten dieses Pharao. Aufgrund ihrer Ortskenntnis wären die diesseits der Grenzfestungen lebenden Israeliten bei einem Einfall auf ägyptisches Gebiet – gar noch mit ausländischen Verbündeten – ein ernstzunehmender Gegner gewesen. Daher war die Sorge der Ägypter durchaus berechtigt und die Aussage, dass die Israeliten zahlreicher und stärker als die Ägypter waren, wird verständlich.

Bei den Bauarbeiten an den beiden Vorratsstädten wurden die Israeliten mit den verschiedensten Fertigkeiten vertraut gemacht, die für die eigentlichen Bauarbeiten und die Herstellung der dafür notwendigen Arbeitsmittel erforderlich waren. Bei der Arbeit auf den Baustellen erhielten die Israeliten außerdem Verpflegung. Nach Abschluss der sicher mehrjährigen Bauarbeiten an den beiden Städten, stellten die Ägypter jedoch entgegen ihrer Erwartung fest, dass das Ziel der Maßnahme, die Vermehrung der Israeliten zu bremsen, nicht erreicht worden war. Nimmt man gleiche Wachstumsraten an, hätte sich die Bevölkerung schon fünf Jahre später um nahezu 1.200 auf 8.015 Menschen erhöht gehabt. Dazu zitiere ich 2Mose 1,12-14:

12 Aber je mehr sie es bedrückten, desto mehr nahm es zu; und so breitete es sich aus, sodass sie ein Grauen erfasste vor den Söhnen Israel. 13 Da zwangen die Ägypter die Söhne Israel mit Gewalt zur Arbeit 14 und machten ihnen das Leben bitter durch harte Arbeit an Lehm und an Ziegeln und durch allerlei Arbeit auf dem Feld, mit all ihrer Arbeit, zu der sie sie mit Gewalt zwangen.

Die Ägypter verschärften nun die Fronarbeit und zwangen die Israeliten zur Herstellung von Ziegeln aus Lehm und zur Feldarbeit. Im Überschwemmungsgebiet entlang des östlichsten Nilarms, der das Land Gosen nach Westen begrenzte (siehe ‎10.1.2), konnte durch Getreideanbau ein Teil der für die Zwangsarbeiter nötigen Nahrung von diesen selbst erzeugt werden. Auch Lehmvorkommen gab es dort sicher genug und der Abtransport der aus Strohhäcksel und Lehm hergestellten Ziegel konnte über den Nil erfolgen. Damit war die Auslastung der Israeliten mit harter Arbeit für lange Zeit gesichert.

  • 1 Zerbst: Größe Israels, S. 143, Endnote 39

    2 In 1Chr 7,21 wird berichtet, dass einige Nachkommen Ephraims von Männern Gats umgebracht wurden, die herabgestiegen waren, ihre Vieherden zu nehmen. Der hebräische Text ist hier zweideutig und könnte auch so verstanden werden, dass die Ephraimiter beim Viehdiebstahl ertappt und umgebracht wurden. So wird der Text auch in den meisten Übersetzungen interpretiert. Da aber von einem „Herabsteigen“ die Rede ist, und das Land Gosen östlich des Nildeltas nahe Meereshöhe liegt, Gat in Kanaan aber weiter im Landesinnern im Vorbergland (vermutlich Tell es-Safi 213 m ü.d.M), dürfte klar sein, dass die Männer von Gat die Viehdiebe waren und bei ihrem vermutlich erfolgreichen Raubzug die in der Unterzahl befindlichen israelitischen Hirten umgebracht haben. Es ist außerdem äußerst unwahrscheinlich, dass die zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr zahlreichen Angehörigen des Stammes Ephraim ihre großen Herden allein gelassen hätten, um einen Raubzug gegen eine befestigte kanaanitische Stadt, die über 300 km entfernt tiefer im Landesinneren Kanaans lag, durchzuführen. Den Einwohnern von Gat dürfte es dagegen von ihren Reisen nach Ägypten zum Getreidekauf während der Hungersnot bekannt gewesen sein, dass die reichen Viehbesitzer, die davor in Hebron und Migdal-Eder gewohnt hatten (siehe ‎5.5.2.5), sich jetzt im Ostdeltagebiet diesseits des Nils angesiedelt hatten.