Wie in Abschnitt ‎3.1.1.2 begründet hatten schon die Ägypter die israelitischen Fronarbeiter in Gruppen zu 50 Mann eingeteilt. Die Führungsstruktur in diesen Gruppen ergibt sich aus 2Mose 5,13-14:

13 Und die Antreiber drängten sie und sagten: Vollendet eure Arbeiten, die Tagesleistung an ihrem Tag wie ⟨früher⟩, als ⟨noch⟩ Häcksel da war! 14 Dazu wurden die Aufseher9 der Söhne Israel, die die Antreiber des Pharao über sie gesetzt hatten, geschlagen, indem man sagte: Warum habt ihr weder gestern noch heute euer Maß an Ziegeln erfüllt wie bisher?     

9 w. Schreiber(n); d. i. eine Beamtenbezeichnung

Es gab vom Pharao eingesetzte „Antreiber“ und von diesen eingesetzte Israeliten, die im Zitat als „Aufseher“ bezeichnet werden. Diese Israeliten hatten dafür zu sorgen, dass ihre Gruppe die von den Antreibern übermittelten Befehle des Pharao befolgte und die Mengenvorgaben erreichte, sonst wurden sie selbst geschlagen. Der Übersetzung „Aufseher“ liegt das hebräische Wort שֹׁטֵר (SchoTheR) zugrunde. Gesenius gibt für diese Stelle die Übersetzung „Aufseher d. isr. Fronarbeiter“ vor.1 Dem folgen die meisten deutschen Übersetzungen. Die Übersetzung „Aufseher“ passt aber m.E. von dem oben zitierten Kontext her nicht. Die Aufsicht hatten nämlich die ägyptischen Antreiber, die selbst nicht mitarbeiteten. Die von diesen eingesetzten Israeliten hatten eher die Rolle eines Vorarbeiters, der die Arbeit organisierte, aber auch selbst mitarbeitete – sozusagen als Erster unter Gleichen. Dementsprechend übersetzt die English Standard Version (ESV) שֹׁטֵר (SchoTheR) in 2Mose 5,6+10+14+15+19 jeweils mit „foreman“. Ich schlage deshalb an diesen Stellen die Übersetzung „Vorarbeiter“ vor und gehe davon aus, dass der Vorarbeiter eines der 50 Gruppenmitglieder war und die Gruppe nicht aus 50 Mann zuzüglich eines israelitischen Aufsehers bestand.

In Abschnitt ‎3.1.1.2 hatte ich aufgezeigt, dass für die Herausführung eines mehr als 100.000 Personen zählenden Volkes eine klare Führungsstruktur und Befehlskette und geeignete Anführer notwendig waren und die bisherigen Vorarbeiter sich für die Rolle der Anführer der Gruppen beim Auszug und der daraus entstandenen Heereseinheiten anboten. Diese vor dem Exodus als שֹׁטֵר (SchoTheR) bezeichneten Männer waren somit nach dem ersten Zensus die Unteroffiziere der kleinsten Einheiten des Heeres. Die Sippen waren aber i.d.R. deutlich größer als diese kleinen Einheiten mit einer Sollstärke von 50 Mann. So hatten die beiden Sippen Libni und Schimi der Gerschoniter im Stamm Levi zusammen 630 Männer von 30 bis 50 Jahren (siehe ‎7.3). Die Anzahl der 20- bis 75-Jährigen in diesen beiden Sippen war damit noch weit höher. Obwohl die Arbeitsgruppen – wie in Abschnitt ‎5.7.4 begründet – weitgehend der Sippenstruktur folgten, musste eine Sippe doch i.d.R. auf viele Gruppen aufgeteilt und Reste unter 50 Mann mit anderen Sippen zusammengefasst werden. Die 50er-Gruppen waren auch nicht mit den kleineren Familienverbänden identisch, die selbstverständlich ganz unterschiedlich groß waren. Obwohl die Ägypter für die Rolle der Vorarbeiter Männer ausgewählt hatten, die in der Autoritätsstruktur ihrer Sippe höher standen, passte deshalb die für Sippenoberhäupter verwendete Begriff אַלּוּף bzw. אַלֻּף (ALUPh bzw.  ALuPh) für diese Personen nicht. Daher halte ich es für naheliegend, dass die Bezeichnung שֹׁטֵר (SchoTheR) nach dem ersten Zensus für die Unteroffiziere des israelitischen Heeres beibehalten wurde.

Für die höheren Offiziere, die über 100 bzw. 1.000 Mann standen, wird beim zweiten Zensus die Bezeichnung שַׂר (SsaR, hier: Hauptmann, Oberst) verwendet (4Mose 31,14).2 In 1Chr 27,1 werden neben solchen Hauptleuten oder Obersten über 100 und 1.000 Mann ebenfalls שֹׁטֵר (SchoTheR) genannt:

1 Und ⟨dies sind⟩ die Söhne Israel nach ihrer Zahl, die Familienoberhäupter1 und die Obersten über Tausend und über Hundert und ihre Verwalter2, die dem König dienten in allen Angelegenheiten der Abteilungen, die Monat für Monat antraten und abtraten, alle Monate des Jahres. Jede Abteilung ⟨zählte⟩ 24000 Mann.                                 

1 w. Häupter der Väter        2 w. Schreiber; d. i. eine Beamtenbezeichnung

An dieser Stelle übersetzt die Elberfelder שֹׁטֵר (SchoTheR) mit „Verwalter“. Dieser Übersetzung liegt die in der Fußnote zum Ausdruck gebrachte Meinung zugrunde, dass dieses Wort die wörtliche Bedeutung „Schreiber“ hätte. Für „Schreiber“ wird in Jes 10,1 jedoch das Wort מְכַתֵּב (MöKhaTeBh), die Piel-Partizip-Form des Verbs כתב (K T Bh) verwendet. Dieses Verb wird im AT-Kanon für „schreiben“ verwendet. Das Wort שֹׁטֵר (SchoTheR) ist dagegen die Qal-Partizip-Form des Verbs שׁטר (Sch Th R). Dieses Verb kommt im AT-Kanon nur in dieser grammatikalischen Form vor und wird ausschließlich als Personenbezeichnung verwendet. Gesenius gibt folgende Übersetzungen an: „Amtsträger (eigtl. Schreiber; vgl. סוֹפֵר [M.K.: SOPheR] u. ar. kᾱtib), Aufseher d. isr. Fronarbeiter i. Ägypten […], Amtleute unklarer Funktion ([?] Listenführer, Schriftführer, Protokollant)“. Das Fragezeichen in der eckigen Klammer stammt aus dem Gesenius.3 Die Übersetzung „Schreiber“ wird von ähnlich lautenden Wörtern aus anderen semitischen Sprachen, die in diesen Sprachen die Bedeutung „schreiben“ haben, hergeleitet. Die oben zitierten Ausführungen des Gesenius machen aber deutlich, dass diese Bedeutung unsicher ist. M.E. sollte man שֹׁטֵר (SchoTheR) im AT besser im Sinne einer Autoritätsperson übersetzen. Dazu zitiere ich 5Mose 1,15 und 4Mose 11,16 jeweils nach der Schlachter 2000:

5Mose 1,15 Da nahm ich die Häupter eurer Stämme, weise und erfahrene Männer, und setzte sie zu Oberhäuptern über euch, zu Obersten über tausend und zu Obersten über hundert und zu Obersten über fünfzig und zu Obersten über zehn und als Vorsteher für eure Stämme.

4Mose 11,16 Da sprach der HERR zu Mose: Versammle mir 70 Männer aus den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie die Ältesten des Volkes und seine Vorsteher sind, und führe sie vor die Stiftshütte, dass sie dort bei dir stehen.

In 5Mose 1,16 erwähnt Mose in seinen Abschiedsreden rückblickend die auf Anregung seines Schwiegervaters Jitro schon vor Erreichen des Sinai eingesetzten Richter (2Mose 18,21-26) und bezeichnet sie als שֹׁטֵר (SchoTheR). Die Schlachter 2000 übersetzt hier m.E. treffend mit „Vorsteher“. Entsprechend wurden auch die 70 Ältesten, die zur Unterstützung Moses bei seiner Führungsaufgabe eingesetzt werden sollten, aus einer Personengruppe ausgewählt, die als שֹׁטֵר (SchoTheR) bezeichnet werden. Hier handelt es sich ebenfalls um Autoritätspersonen, die als „Vorsteher“ bezeichnet werden können, aber keinesfalls als „Schreiber“. Auch die Übersetzung „Vorarbeiter“ bei den Vorkommen in 2Mose 5,6+10+14+15+19 passt sehr gut zu dem Begriffsfeld „Autoritätsperson“, nicht aber zu dem Begriff „Schreiber“. Deshalb schlage ich für 1Chr 27,1 (siehe Zitat oben) die Übersetzung „die Obersten über Tausend und über Hundert und ihre Unteroffiziere [über 50 Mann]“ vor. Diese Übersetzung würde meine Annahme bestätigen, dass die Bezeichnung שֹׁטֵר (SchoTheR) beibehalten wurde, als die früheren Vorarbeiter beim ersten Zensus zu Anführern der kleinsten Einheiten des israelitischen Heeres à 50 Mann wurden.

Zusammenfassend kann folgendes zur Bezeichnung der Offiziere im Heer der Israeliten im Zeitumfeld der beiden Musterungen festgehalten werden: Die höheren Offiziere über 100 und 1.000 Mann wurden als שַׂר (SsaR, hier: Hauptmann, Oberst) bezeichnet. Für die Anführer der kleinsten Heereseinheiten mit einer Sollstärke von 50 Mann, die man als Unteroffiziere bezeichnen könnte, passt die Bezeichnung ALuPh (= Sippenoberhaupt) nicht, da ihr Führungsbereich zu klein und nicht mit einer Sippe deckungsgleich war. Die erste Generation der Unteroffiziere des mit dem ersten Zensus gegründeten israelitischen Heeres wurde vor dem Exodus in ihrer Funktion als Vorarbeiter der Arbeitsgruppen in Ägypten mit dem allgemein für Autoritätspersonen verwendeten Wort שֹׁטֵר (SchoTheR, hier: Vorarbeiter) bezeichnet. Da die ihnen unterstellten Arbeitsgruppen nach dem Ausscheiden der Sklaven 1 zu 1 in Heereseinheiten umgewandelt wurden und ihnen weiter unterstellt blieben, ist es naheliegend, dass diese Bezeichnung beibehalten wurde. Die von Clark und Wenham vertretene These, dass die nicht als Tausender zu lesenden ÄLäPh bei den zwölf Stämmen die Bedeutung „Hauptleute“ hätten und für alle Offiziere über 50, 100 und 1.000 Mann angewendet wurde (siehe ‎2.3), ist daher m.E. nicht haltbar.

Bei den Leviten sieht das allerdings anders aus. Dort ergibt die Annahme einer Verwechslung von ALuPh mit ÄLäPh durchaus Sinn, mehr dazu in Abschnitt 7.3.4. Vorher möchte ich jedoch noch kurz erläutern, wie bei meinem Deutungsvorschlag zu den Wehrfähigen-Zahlen in den Zensuslisten die Numerus-Formen von ÄLäPh bei Anwendung der heutigen Pluralbildungs-Standards ausgesehen hätten. 

  • 1 Vgl. Gesenius, Hebräisches Handwörterbuch, S. 1346, שׁטר

    2 Vgl. ebd., S. 1297f, שַׂר „… 1. b) milit. Offizier, Kommandant, Befehlshaber …”

    3 Vgl. ebd., S. 1346, שׁטר